Jedes Jahr im März trifft sich die europäische Animationsbranche im französischen Lyon beim Cartoon Movie, um sich über die neusten Kinostoffe in den Pipelines der Produzenten zu informieren.
Cartoon Movie ist ein Finanzierungsmarkt, auf dem sich Filmemacher und Finanziers zusammen kommen. Hier kann man sich wie nirgends sonst einen Überblick über die neusten Trends auf dem Animationsmarkt verschaffen.
Mutafukaz – (c) Ankama Animations (F)
Die in Lyon vorgestellten Filmprojekte befinden sich in den verschiedensten Entstehungsstadien. Von einer einfachen Idee, die mit ersten Zeichnungen visualisiert wird, bis hin zu Filmen kurz vor ihrer Fertigstellung, die noch Vertriebe – das sind Filmverleihe oder Fernsehsender – in weiteren Ländern suchen.
Louise im Winter – (c) JPL Films (F)
Erwachsene müssen draußen bleiben.
Auch die mittlerweile 18. Ausgabe von Cartoon Movie zeigte erneut wie reichhaltig die Themen europäischer Animation sind. Es macht aber auch schwermütig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die meisten dieser Filme niemals ihren Weg nach Deutschland finden. Hier haben nur Animationsfilme für Kinder eine Chance. Erwachsene müssen draußen bleiben.
Dabei ist einer der stärksten, jedes Jahr aufs neue bestätigte Trend bei Cartoon Movie die starke Zahl an Animationsfilmen für junge Erwachsene und Erwachsene. So auch bei der mittlerweile 18. Ausgabe in diesem Jahr. 2014 waren es 30 Prozent der vorgestellten Filme, 2015 waren es 25 Prozent und in diesem Jahr 34 Prozent.
Diese Filme setzen sich in der Regel mit Gewalt, Hoffnungslosigkeit und dem Überleben in einer feindlichen Umwelt auseinander. Manche haben noch eine fantastische Variante wie der auf einer Comicreihe basierende Mutfukaz oder sie können feinstes Arthouse sein wie Louise im Winter, in dem eine alte Frau am Strand über ihr Leben reflektiert.
Heart of Darkness – (c) Les Films d’Ici (F)
Das Animation für Erwachsene nicht nur Kunst oder Spaß ist, sondern auch tiefgreifende Probleme unsere Zeit aufgreift, dürfte das aus Brasilien stammende Projekt Heart of Darkness zeigen.
Wie schon Francis Ford Coppola, der die Geschichte inApocalypse Now nach Vietnam verlegte, greifen auch hier die Macher Joseph Conrads Roman ‚Herz der Finsternis‚ auf und verlegen ihn dieses Mal in die Favelas von Rio de Janeiro. „Als ich das Buch gelesen habe, dachte ich: das ist doch Rio“, erzählt Rogério Nunes, Autor und Regisseur des Films. Die gezeigten Bilder transportieren eine beklemmende, spannende Stimmung über den brutalen Alltag in den Favelas in einer absehbaren Zukunft.
Der Film kommt komplett ohne Gewalt und Kämpfe aus
Der totale Kontrast hierzu ist Canaan, die Geschichte einer Gruppe belgischer Nonnen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA spielt. Zu dieser Zeit gab es eine immense Flüchtlingswelle von Europäern, die ihr Heil in den Weiten der Prärie suchten. Canaan ist ein subtiles, psychologischen Drama über eine innere Reise einer romantisch veranlagten Frau. „Es geht darum wie man Sinn und Erfüllung in seinem Leben findet“, erklärte Autor und Regisseur Jan Bultheel. Der Film kommt komplett ohne Gewalt und Kämpfe aus.
Wie schon bei dem 1. Weltkrieg-Epos Cafard, das von den gleichen Machern stammt, setzt Canaan auf einen eigenen Stil mit Pastellfarben, den Verzicht von schwarzen Begrenzungslinien, sogenannten Outlines, sowie einer Ausrichtung auf ein Arthouse-Publikum. Zudem verspricht der Teaser eine sehr dynamische Erzählweise..
A Childhood of Martha Jane Canary – (c) Maybe Movies & Sacrebleu Productions (F)
Canaan steht auch für die Filme, in denen starke Frauen im Vordergrund stehen. Etwa in dem zweiten von drei vorgestellten Western, A Childhood of Martha Jane Canary, die später als Calamity Jane berühmt wurde.
Auf dem Treck über die Weiten der Prärie nach Oregon stirbt Janes Mutter. Während ihr Vater daran langsam zerbricht, wird sie immer stärker und übernimmt langsam sämtliche Aufgaben ihrer Eltern. Das als Film für die ganze Familie avisierte Projekt beschäftigt sich mit Rollenklischees und der Frage, wer eigentlich was darf.
Cinderalla the Cat – (c) MAD Entertainment & RAI Cinema (I)
Cinderella the Cat porträtiert Schneewittchen ebenfalls als toughe junge Frau, die ihr Schicksal in eigene Hände nimmt und auch vor Mord nicht zurück schreckt. Das original aus Neapel stammende und sehr viel brutaler und dunkler erzählte Märchen, ist für den Film in die heutige Zeit verlegt und in eine Mafia- und Vendetta-Geschichte transformiert worden.
Im Bericht über das letzte Jahr habe ich den Film noch als Film bezeichnet, den man sich auf den Merkzettel setzen sollte.
Nachdem ich dieses Jahr einen längeren Ausschnitt sehen konnte, bin ich allerdings nicht mehr so ganz überzeugt davon. Zwar fasziniert mich noch immer die grundsätzliche Geschichte und das Artwork, doch erscheint mir Cinderellas Vater als zu nett, weltfremd und dadurch als zu unsympathisch.
Domenica – (c) MIYU Productions (F)
In Animationsfilmen für Kinder gibt es traditionell viele weibliche Helden. Ob sie das Attribut ’stark‘ verdienen lässt sich von Fall zu Fall diskutieren.
Allerdings muss stark ja auch nicht immer heißen, dass man eine Führungsposition inne hat oder Menschen umbringt, wie Cinderella oder die Titelheldin in Domenica, die die Kunstsammlungen ihrer beiden Männer zusammen führte, sie zuvor jedoch ermordete – eine erzählerische Freiheit, die sich der ansonsten auf wahren Begebenheiten basierenden Film nimmt. Der Film lotet gleichzeitig aus wie eine Frau eine ‚Diabolique‘ wird, wie sie in H. G. Clouzots Film Die Teuflischen porträtiert wird.
Tirlittan – (c) Making Movies (FIN)
In Filmen für Kinder haben die weiblichen Helden Vorbildrollen oder sollen wie in Tirlittan ihren kleinen Fans helfen mit den Unbillen des Lebens fertig zu werden, wie der Trennung der Eltern. Tirlittan basiert auf einem immens erfolgreichen finnischen Kinderbuch, das heute noch Eltern ihren Kindern vorlesen. Insofern war es nur konsequent die Geschichte auch für das Kino zu adaptieren.
Bayala – (c) Ulysseus Filmproduktion (D)
Genauso konsequent ist es die Figurenreihe ‚Bayala‘ der Firma Schleich im Kino lebendig werden zu lassen (ab Ende 2018). Über das „Bayala“-Universum kann man denken was man will, aber es ist den Produzentinnen von Ulysses Filmproduktion hoch anzurechnen, dass sie das Potential erkannt haben, das in drei Millionen jährlich verkauften Figuren und einer Heftreihe mit 100.000 verkauften Exemplaren alle sechs Wochen liegt.
Dieser Geschäftssinn zeugt von hoher, zielgruppenorientierter Professionalität, die in der deutschen Animation übrigens häufiger zu finden ist als im Rest der Filmbranche.
Emely Christians von der Ulysses Filmproduktion (li.) hat in Kooperation mit Jana Bohl (re.) von Studio Rakete (beide Hamburg) und Koproduzenten in Luxemburg, Belgien und Irland den Film Ooops! Die Arche ist weg…) entwickelt und in 3D produziert. U. a. wurde sie hierfür von der Branche bei Cartoon Movie 2016 als Animations-Produzenten des Jahres ausgezeichnet.
Dino Mite – (c) M.A.R.K.13 & TRIKK 17 (D)
Hierfür steht auch M.A.R.K. 13 mit Dino Mite, das auf der Kinderbuchserie „Minus Drei“ von Ute Krause basiert. Das Projekt um einen Dinosaurier-Teenager, der sich ein Menschenmädchen als Haustier hält (Menschen konnten zu Zeiten der Dinos nämlich nicht sprechen), wurde schon als Serie bei Cartoon Forum, dem Finanzierungsmarkt für Animationsserien, in Toulouse vorgestellt. Jetzt sollen Serie und Film zusammen entwickelt werden.
Richard der Storch – (c) Knudsen & Streuber Medienmanufaktur (D)
Ein weiteres deutsches Projekt ist Richard der Storch über einen Spatz, der bei Störchen aufwächst und sich für einen solchen hält. Das wird jedoch erst dann ein Problem, als er nicht mit nach Afrika fliegen darf – und es auch nicht kann. Der Film startet im Frühjahr kommenden Jahres und setzt sich mit Identität auseinander.
Der Autor Meza Memari hat viel aus seiner eigenen Erfahrung in den Stoff eingebracht. Das gibt dem Stoff ein Internationalität, die dazu geführt hat, dass der Film schon beinahe weltweit verkauft ist. Das Projekt spiegelt seine Internationalität auch in der Herstellung wieder und ist als Vier-Länderkoproduktion (Deutschland, Luxemburg, Norwegen, Belgien) mit 18 Finanzierungspartnern und sechs Studios inklusive Postproduktion und Tonstudio eine typische europäische Produktion.
The Khmer Smile – Animalps Productions (F)
Der Film ist biografisch, aber keine Biografie
Identität ist auch Thema von The Khmer Smile, in dem der Autor und Regisseur Fabrice Beau seine eigenen Erfahrungen verarbeitet. Aus Kambodscha stammend, wurde er von Franzosen adoptiert. Der Film spiegelt seine erste Reise ins Land seiner Geburt. Der Film ist biografisch, aber keine Biografie. Der Stil ist einfach, beinahe comichaft.
Another Day of Life – (c) Platige Image (Polen)
Reisen in die Welt sind in der Animation sehr beliebt. Dahinter steht meist eine politische oder pädagogische Absicht: man will zeigen, wie das Leben dort ist, was die Menschen dort zu ertragen und zu erleiden haben.
Dabei kommen durchaus extrem spannende Geschichten zustande wie in der polnischen Produktion Another Day of Life, an der u. a. zwei deutsche Koproduzenten beteiligt sind.
Der Film erzählt eine Episode im Leben des polnischen Reporters und Kriegsberichterstatters Ryszard Kapuściński. Nachdem die Portugiesen 1975 Angola über Nacht verlassen hatten, bricht dort das totale Chaos aus. Inmitten eines tödlichen Bürgerkriegs sucht Kapuściński nach der Wahrheit des Krieges.
Nayola – (c) Filmes da Praca (Portugal)
Mit Nayola gibt es noch ein zweites Projekt, das in Angola spielt. The Siren, spielt 1980 während des Iran-Irak-Krieges in der Hafenstadt Abadan und schildert den Überlebenskampf des 14-jährigen Omid. Der Film wird eine starke Visualität haben, eine strenge Ästhetik, große farbige Flächen ohne Schattierungen und Outlines.
The Siren – (c) Les Films d’Ici (F)
Ein weiterer Trend dieses Jahres ist die Kindheit von Menschen zu erzählen, die später mal berühmt wurden. Calamity Jane wurde schon erwähnt. Weitere Stoffe sind Hieronymus, Little Jules Verne und die schwarze Comedy Little Bastard, in der spätere Diktatoren in die Reformschule ‚Last Chance‘ inmitten der Alpen gesteckt werden.
Mein Lieblingsprojekt ist jedoch Zweite Generation über einen KZ-Überlebenden, den einzigen seiner Familie, der erst während der Eichmann-Prozesse den Mut aufbringt, mit seinem Sohn über seine Zeit in Auschwitz zu sprechen.
Der Film basiert auf einem auch hierzulande erhältlichen belgischen Comic von Michel Kichkaund ist nicht nur die Aufbereitung eines schrecklichen Traumas.
Es ist vielmehr eine anrührende Geschichte wie sich ein Vater gegenüber seinem Sohn öffnet, seine intimsten Momente mit ihm teilt und eine spezielle Beziehung zwischen den beiden entsteht. Die vorgestellten Szenen waren sehr emotional, anrührend, witzig. Sie nahmen einen sofort für die Personen und ihr Schicksal ein. Es gibt kaum Auseinandersetzungen damit wie die Kinder von Holocaustüberlebenden mit dem Trauma ihrer Eltern umgehen und wie sie selbst davon betroffen sind.
Eine Ausnahme ist etwa der Dokumentarfilm L’Chaim – Auf das Leben von Elkan Spiller. Beide Filme sind sehr persönliche Geschichten über Menschen, die einem schnell ans Herz wachsen und über die man auch etwas über seine eigene Einstellung zum Leben lernt.
Zweite Generation – (c) Stephan Films & PMMP (F)
Die Statistik
Die unangefochtene Nummer 1 beim Animationsfilm ist nach wie vor Frankreich. 56 Filme aus 19 Ländern in den verschiedensten Entwicklungsphasen zwischen Konzept bis zum fertigen Produkt werden jedes Jahr bei Cartoon Movie vorgestellt.
Im vergangenen Jahr kamen 26 Projekte aus Frankreich, heuer waren es 18. Deutschland nahm mit fünf Projekten neben Dänemark zumindest den zweiten Platz ein. Dann folgten Italien, Niederlande und Polen mit je drei Projekten.
Es kamen ca. 750 Branchenvertreter nach Lyon. Eine ebenfalls gerne genannte Zahl sind die Gesamt-Herstellungskosten aller Filme, die sich 2016 auf 346 Mio. Euro addierten. Neben den 19 Filmen für Teenager und Erwachsene wurden zwei Vorschul- und 35 Kinderfilme vorgestellt. Letztere zielen in der Regel auf die ganze Familie. Bis heute sind über Cartoon Movie 257 Projekte mit einem Gesamtproduktionsbudget von 1,8 Milliarden Euro entstanden.
Little Jules Verne – (c) Enormous Pictures & Caribara Production (F)
Wie es um den europäischen Animationsfilm bestellt ist, zeigt eine Studie, die von der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle Mitte vergangenen Jahres veröffentlicht wurde.
Beiträge über Animationsprojekte aus den vergangenen Jahrgängen bei Cartoon Movie aber auch Cartoon Forum finden Sie auf meiner Website.
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