„Ist ‚Miss Saturne‘ nur eine nostalgische Reise für uns, die wir in den 80ern aufgewachsen sind oder wollen es die Heranwachsenden von heute auch sehen?“, hat sich Jérôme Combe, Regisseur und Produzent des Animationsfilms MISS SATURNE selbstkritisch gefragt. „Wir haben einen Test gemacht und die Antwort ist: Ja!“ Tatsächlich gehört die Romanverfilmung MISS SATURNE zu den Top-Projekten des diesjährigen Finanzierungs- und Koproduktionsmarkt Cartoon Movie, der in diesem Jahr zum ersten Mal im französischen Bordeaux stattfand und ein Füllhorn an Projekten mit immensem Potential präsentierte, die an dieser Stelle gar nicht alle berücksichtigt werden können.
Zu der Auswahl, die ich hervor heben möchte, gehört MISS SATURNE. Der Film erzählt von der 15-jährigen Clara. Sie ist ein New Wave-Girl, liebt die Musik der Smiths und von Siouxie and the Banshees. Nizza, wo sie lebt, ist für sie ein goldener Käfig. Sie will das Leben spüren, heraus finden wer sie ist, was sie kann. Die ersten Szenen dieses Projekt haben eine Tiefe und Emotionalität ausgestrahlt, wie sie selbst in Live-Action-Filmen selten zu finden ist. Allein der Blickkontakt Claras mit einem Jungen im Vorbeifahren lässt tief in ihre Seele blicken. Die Abbildung oben ist übrigens ein Bild aus dieser Szene.
Filme sind immer stark, wenn es um etwas geht. Wenn Gefühle, Sehnsüchte, Ängste, Visionen oder die pure Angst ums Überleben im Mittelpunkt steht. Wenn man gegen Widerstände angehen muss, um sein Glück zu finden. So ein Film ist der französische MISS SATURNE, der britische ETHEL & ERNEST nach einem Comic von Legende Raymond Briggs über seine Eltern, aber auch der spanische AWAKENIG BEAUTY von Manuel H. Martin. Hier wird die wahre Geschichte von Ana Bella erzählt, die sich in einen Maler verliebt, ihn heiratet und von ihm enttäuscht wird. Doch sie kämpft für die Beziehung. Sie lernt Englisch und verkauft seine Bilder an Touristen in Marbella. Sie werden wohlhabend und bekommen vier Kinder. Doch ihr Mann misshandelt sie. Als sie einen Vertrag unterschrieben soll, dass sie ihn immer lieben und nie verlassen wird, auch wenn er sie schlägt, geht sie.
Ana Bella schlägt sich und die Kinder mit niedrigen Jobs durch bis sie anfängt Frauen zu unterstützen, die gleiches erleiden mussten wie sie. 1,2 Milliarden Frauen – das sind 35 Prozent aller Frauen – weltweit erleiden häusliche Gewalt oder Gewalt, nur weil sie Frauen sind. Mit dem Film wollen die Macherinnen und Macher ein Zeichen setzen. Ein wichtiges Zeichen. Das Stilmittel Animationsfilm haben sie gewählt, weil sie glauben damit die brutalen Episoden überzeugend in einer sehr expressiven Art darstellen zu können, ohne den Zuschauer zu verschrecken, weil ihm die Realität zu viel zumutet.
Beide Filme sind Filme für junge Erwachsene. 17 der 55 Einreichungen bei Cartoon Movie richten sich an diese Zielgruppe. Viele dieser Filme finden Koproduktionspartner und Finanziers und werden letztendlich gemacht. Doch in Deutschland sind sie kaum zu sehen. Zumindest nicht im Kino. Leider gibt es hierzulande keinen Markt für Animation für Zuschauer jenseits von 10 Jahren. Dabei sind gerade diese Geschichten am stärksten, weil sie einerseits künstlerisch heraus stehen und sich anderseits starke Themen aussuchen: die bittersüße Zeit als Teenager, wenn man nicht weiß wer man ist und wohin die Reise geht, Gewalt gegen Frauen, Alzheimer und wie man als Familie damit umgeht, wie in der britisch-kanadischen Produktion TANGLES oder dem französisch-belgischen THE SIREN, der schon im vergangenen Jahr vorgestellt wurde. Der Film spielt 1980 während des Iran-Irak-Krieges in der Hafenstadt Abadan und schildert den Überlebenskampf des 14-jährigen Omid. Der Film wird eine starke Visualität haben, eine strenge Ästhetik, große farbige Flächen ohne Schattierungen und Outlines.
Der spanische BUÑUEL IN THE LABYRINTH OF THE TURTLES basiert auf einem Comic und ist das Portrait eines Künstlers, der darum kämpft seine Visionen, seine Geschichte erzählen zu dürfen und dabei seine eigene (Film)-Sprache benutzen zu dürfen. Gleichzeitig ist es ein Film über Freundschaft, konkret über die bedrohte Freundschaft zwischen Luis Buñuel und dem Bildhauer Ramón Acín, der Buñuel einen Dokumentarfilm über Spanien ärmste Gegend Las Hurdes mit Hilfe eines Lotteriegewinns finanziert.
Gerade die Spanier und die Franzosen aber auch die Belgier haben in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass sie Geschichte – meist ihre eigene aber nicht nur die – auch im Animationsfilm Revue passieren lassen (können) oder aufarbeiten. Dazu gehört in diesem Jahr der französische JOSEP, eine Geschichte über den katalanischen Künstler Josep Bartoli, der vor Francos Truppen nach Frankreich fliehen konnte und im Lager Argelès-sur-Mer interniert war.
In Koproduktion zwischen Frankreich und der Tschechischen Republik soll MY SUNNY MAAD nach dem Roman “Freshta” der tschechischen Kriegsberichterstatterin Petra Prochazkova entstehen. Prochazka ist wie ihre Heldin einem Afghanen nach Kabul gefolgt. Die Geschichte wird mit einem sehr reduzierten, aber klaren und künstlerischen Strich umgesetzt und erzählt von einer Liebe, die alle Herausforderungen über die Kulturen und den Tod hinweg widersteht.
Weitere in die Geschichte reichende Themen behandelt das französisch-belgisch-kanadische Projekt CHARLOTTE (über die jüdische Malerin Charlotte Salomon, die als Therapie begann ihr Leben zu malen und in Auschwitz ermordet wurde);
der französisch-schweizerische THE RED JUNGLE (über Raúl Reyes, dem Vize-Kommandanten und „Außenminister“ der kolumbianischen Rebellenorganisation FARC)
oder aber das belgisch-französische Projekt CANAAN, das ebenfalls schon im vergangenen Jahr vorgestellt wurde. In ihm wird eine Gruppe belgischer Nonnen 1840 von Lakota Sioux-Indianern nach einer Springflut gerettet. Als ihre Gruppe sie wieder findet und ‚retten‘ will, müssen sie sich unvermittelt zwischen der eigenen und der neu erfahrenen Kultur der Sioux entscheiden.
Auch ein zweites Westernthema aus dem vergangenen Jahr wurde erneut vorgestellt: CALAMITY, A CHILDHOOD OF MARTHA JANE CANNARY. Die Geschichte ist für die ganze Familie gedacht und erzählt wie eine der legendärsten Figuren des Wilden Westen wurde, wofür sie heute steht. Da darf man sich definitiv auf eine weibliche Empowerment-Erzählung einstellen.
Die vermutlich stärkste Familiengeschichte dürfte das israelische Projekt INDECISIA sein – zumindest wenn man der Inbrunst folgt, mit der die Autorin Inbal Arbel die Geschichte vorgebracht hat. Kurz gesagt, geht es in der Geschichte um den Preis den man für seine eigene Unentschiedenheit zahlen muss. Denn dass man sich nicht entscheiden kann, führt letztendlich dazu, dass andere über das eigene Leben entscheiden und nicht man selbst. Insofern dürfte der Familienfilm nicht nur für Kinder die ein oder andere Erkenntnis bringen, sondern auch für die begleitenden Erwachsenen.
Bei den deutschen Projekten lohnt es sich vor allem LUIS & THE ALIENS sowie den zweiten Teil von OOOPS, DIE ARCHE IST WEG … im Auge zu behalten, die von der Hamburger Firma Ulysses Filmproduktion produziert bzw. koproduziert werden. Beide versprechen unterhaltsame Familienunterhaltung, was mit OOOPS, DIE ARCHE IST WEG …, der im Sommer 2015 in die deutschen Kinos kam, bereits unter Beweis gestellt wurde. Der Film wurde in alle Territorien der Welt verkauft, spielte bisher knapp 25 Mio. Euro ein und war ausgerechnet in Großbritannien am erfolgreichsten.
Die Statistik
Die unangefochtene Nummer 1 beim Animationsfilm in Europa ist nach wie vor Frankreich. Mit einem Schnitt von 316 Stunden an Fernsehprogramm und elf Kinofilmen pro Jahr rangiert es nach den USA und China auf Platz 3 der Weltrangliste. Auch wirtschaftlich sind Animationsfilme durch alle Altersgruppen in Frankreich und teils auch im Ausland sehr erfolgreich. Von den beim diesjährigen Cartoon Movie 55 vorgestellten Projekten aus 19 Ländern in den verschiedensten Entwicklungsphasen zwischen Konzept bis zum fertigen Produkt, kamen 17 Projekte aus Frankreich, gefolgt von Deutschland und Belgien mit je fünf! Im vergangenen Jahr stellte Frankreich 18 und im Jahr zuvor gar 26 Projekte. Auch 2016 nahm Deutschland mit fünf Projekten – gemeinsam mit Dänemark – den zweiten Platz ein. Heuer kamen ca. 850 Branchenvertreter aus 41 Ländern nach Bordeaux. Das bedeutet eine Steigerung von rund 14 Prozent. Eine ebenfalls gerne genannte Zahl sind die Gesamt-Herstellungskosten aller Filme, die 2017 303,5 Mio. Euro betrug (2016: 346 Mio. Euro). Neben den 18 Filmen für Teenager und Erwachsene wurden zwei Vorschul- und 35 Kinder-/Familienfilme vorgestellt – was exakt der Verteilung des Vorjahrs entspricht. Seit 1999 sind über Cartoon Movie 274 abendfüllende Animations-Spielfilme mit einem Gesamtproduktionsbudget von 1,9 Milliarden Euro entstanden. Der ein oder andere davon wurde sogar für den Oscar nominiert.
Wie es um den europäischen Animationsfilm bestellt ist, zeigt eine Studie, die von der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle Mitte 2015 veröffentlicht wurde.
Beiträge über Animationsprojekte aus den vergangenen Jahrgängen bei Cartoon Movie aber auch Cartoon Forum finden Sie hier.
Und zum Abschluss als Treat einen Bericht meines lieben Kollegen Wolfgang Spindler von und für euronews: