Immer wenn ich den Titel dieses Romans lese, muss ich an John Reed denken. Vielleicht wollte die Autorin das, vielleicht nicht. Ich könnte sie fragen, aber warum sollte ich? Es gibt Fragen, deren Antworten zerstören nur die Möglichkeiten an den wunderbaren Assoziationen, die diese Fragen aufwerfen. Und wie sich beim Lesen von Heike-Melba Fendels Roman heraus stellt, gibt es darin einige Fragen, bei denen man nicht weiß, ob man sie beantwortet haben oder sich doch lieber den durch sie erweckten Illusionen unkritisch, dafür aber mit umso mehr Lust, hingeben möchte. Insbesondere wenn durch Antworten nur der leichte, ätherische Lesefluss, die Bilder und die Gefühle, die er hervor ruft, gestört und die Blase zerbersten würde, in die die Erzählerin den Leser mitnimmt und in der er sich so angenehm entrückt der Geschichte hingeben kann.
Die zehn Tage im Titel beschreiben keine Revolution, die die Welt erschütterte und bis heute nachwirkt, sondern mit den Internationalen Filmfestspielen Berlin einen festen Zeitraum, der jedes Jahr zur selben Zeit statt findet – für die Ich-Erzählerin 2013 aber Disruption bedeutete und zu einem einschneidenden Erlebnis wurde. Wie wird es am Ende dieser zehn Tage für sie sein? Wo wird sie stehen? Wie wird es nach dem Ende dieser Berlinale weiter gehen? Die Erschütterung beginnen mit einer Nachricht von dem konsequent ‚der Mann‘ genannten Mann der Protagonistin. „Ziehe für zehn Tage zu Sepp, das ist besser für uns“, hat er mit Bleistift auf den Notizblock geschrieben. Doch was klingt wie das Ende einer Liebesgeschichte, ist in Wirklichkeit ihr Anfang.
Es ist nicht nur das Verhalten des Mannes und die Beziehung zu ihm, die die Protagonistin dazu zwingt sich damit auseinanderzusetzen wie sie nur mit ‚dem Mann‘ in diesem Einfamilienreihenhaus in der Flughafensiedlung in Berlin-Tempelhof gelandet ist – eine Siedlung, die in Berlin für Beamtenmentalität und entsprechender Schnarchigkeit steht. Auch die bevor stehende Wiederbegegnung mit einer alten Bekannten lässt die Protagonistin darüber nachdenken, was die Zeit mit ihr gemacht hat – in all den Jahren, seit sie aufbrach die Welt zu erobern.
Jung, ungestüm, offen und neugierig auf die Zukunft und frei von falscher Zurückhaltung fuhr sie einst zum Filmfestival ins schottische Edinburgh, wo sie eine junge, aufstrebende Filmemacherin in der Cafeteria kennen lernt, mit der sie gleich eine seelische Verwandtschaft entdeckt. Über die Jahre verfolgt sie ihren Aufstieg und ihr Verschwinden bis sie 2013 auf der Berlinale mit ihrer Mini-Serie „Top of the Lake“ wieder auftaucht. Aber die große, Oscar-prämierte Regisseurin Jane Campion hat eine andere Entwicklung genommen. Wie bei dem Mann hat auch diese Liebe, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt – aber eine andere bestärkt und zu neuem Leuchten gebracht.
„Zehn Tage im Februar“ ist alles andere als ein Lamento über das was nicht so läuft im Leben. Die Protagonistin erhält durch den unvorhergesehen Lauf der Ereignisse die einmalige Chance ihr Leben zu justieren. Der Mann, der sie für zehn Tage verlässt, weil er weiß, dass ihre Leidenschaft für Film für die zehn Tage Berlinale keinen Raum für anderes lässt, der weiß, dass es für beide besser ist, wenn er sich zurück zieht, damit sie freie Bahn hat, frei von ihm ist; die überraschende Chance Jane Campion wieder zu treffen – diese beiden Momente werfen sie aus der Bahn, veranlassen sie ihr Leben zu reflektieren, darüber nachzudenken wie sie in diese Siedlung, in diese Konstellation gekommen ist. Dabei ist die Frau nie Opfer. Sie hat ihre Stärken, ihre Schwächen. Sie handelt, lässt aber auch geschehen. Ist ehrlich, unbarmherzig sich selbst gegenüber – und konsequent.
Das Buch ist weder ein Berlinale-, Film- noch Frauenroman (obwohl all das vorkommt und dabei eine Begegnung mit Schauspieler Tim Robbins, der 2013 Jury-Präsident war, geschildert wird, bei der er der Protagonistin seine Zimmernummer zusteckt). Es ist ein tolle und toll geschriebene Erzählung mit einer sehr präzisen Sprache, liebevoll beobachteten Genauigkeiten, die Schnellleser wie mich dazu zwingen langsamer zu werden, aufmerksamer zu sein, um tiefer, intensiver eintauchen zu können in die Worte, Sätze, Geschichte und kleinen Geschichten, aus denen das Große, Ganze zusammen gesetzt ist, um darüber mit einer schönen Erzählung belohnt zu werden, die – sosehr ich es auch vermeide Anglizismen zu verwenden – mit ‚uplifting‘ besser zu beschreiben ist, als mit ‚erhebend‘, weil das so etwas Altbackenes an sich hat wie ‚Fliegersiedlung‘.
Mir gefällt der Stil der Autorin Handlung anzuteasen, in der Zeit vor und zurück zu gehen, so das Thema einzukreisen und sich heran zu pirschen. Besonders großartig finde ich die Übergänge via Assoziationen. Das ist so natürlich und organisch. Dadurch bleibt es leicht, interessant. Und vor allem ist es gerade dadurch kein ‚Berlinale‘ oder ‚Film‘-Roman geworden, was es leicht hätte werden können – was wiederum ziemlich eintönig geworden wäre – sondern eine Reflektion auf das Leben, eine zärtliche, gelegentlich nostalgische Bestandsaufnahme ohne Bedauern, aber immer mit dem festen Willen das eigene Leben auch selber zu kontrollieren.
Die Berlinale, der Film, der Glamour, die interessanten Begegnungen und die Partys, auf denen man sich abschießt, sind nur der Hintergrund, vor dem sich die eigentliche Geschichte ereignet. Ich habe nicht alle der in dem Buch erwähnten und zitierten Filme gesehen. Aber an denen, die ich gesehen habe, erkenne ich, dass die Bezüge und ihre Einbindung in die Geschichte super funktionieren, um die Innenwelt der Protagonistin erlebbar zu machen. Für mich als Mann (falls diese Unterscheidung eine Rolle spielen sollte) funktioniert das Erzählen gut, ich bin immer bei der Protagonistin geblieben, wollte wissen wie es weiter geht, was wie ein Typ ‚der Mann‘ tatsächlich ist, wie alles zusammen passt oder auch nicht. Wie genau nun alles so gekommen ist, wie es gekommen ist.
Darüber hat der Roman etwas anderes für mich bestätigt: Frauengeschichten finde ich inzwischen spannender als Männergeschichten. Die sind mir zu sehr more of the same – hier gibt es für mich kaum mehr einen Erkenntnisgewinn. Etwas, das ich zum ersten Mal übrigens bei der Anwaltsserie DAMAGES mit Glenn Close und Rose Byrne bemerkt habe.